Mondgrün

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»Komm, Paulchen, tanz mit mir!«, rief sie lachend und drehte sich zur Musik im Kreis.

Paul schüttelte den Kopf und saß schweigend an einem der üppig geschmückten Tische. Das Festgelände war nichts weiter als ein Stück Wiese hinter seinem Heimatdorf, nahe den Bergen und abseits des Großstadtlärms.

Die hochstehende Sonne brannte und keine schattenspendende Wolke war in Sicht. Über der grünen Wiese flimmerte die Hitze und Paul wischte sich den Schweiß von der Stirn. Eigentlich hatte er Besseres zu tun, als seiner Mutter beim Tanzen zuzusehen, aber sie war eine Augenweide. Das weiße Leinenkleid flatterte im Wind ihrer anmutigen Bewegungen. Ihr schimmerndes graues Haar wellte sich über ihre zerbrechlichen wirkenden Schultern. Sie war voller Leben und von einer Anziehungskraft, welche ihresgleichen suchte.

»Paul, komm tanz mit mir!«, forderte sie ihn fröhlich auf. Erneut.

Dieses Mal kam er ihrem Wunsch nach, denn er ahnte, dass sie wieder fragen würde. Vielleicht selbst dann noch, nachdem er mit ihr getanzt hatte. Es machte ihn glücklich, sie so zu sehen und seinen Namen aus ihrem Mund zu hören. Zu oft erkannte sie ihn nicht mehr, wusste nicht, wen sie vor sich hatte. Vergaß ihn. Lächelnd nahm er sie in den Arm und drehte sich mit ihr im Kreis. Der Duft von Wildblumen, sonnengetrocknetem Gras, frischer Bergluft und einem unbeschwerten Leben stieg ihm in die Nase. Ausgelassen strudelte er gemeinsam mit ihr durch den Tag.

Als die Dämmerung einsetzte, wurden die großen Fackeln entzündet, welche das Festgelände in warmes Licht tauchten. Es roch nach brennendem Lampenöl und Fleisch über einem Feuer. Röstaromen erfüllten die Luft und ihm lief das Wasser im Mund zusammen.

»Paul! Ich brauch eine Pause«, schnaufte sie und setzte sich auf eine Bank.

Sie bestellte einen Krug Weißbier.

»Das war schön«, rief sie begeistert. »Danke.«

Erschöpft lehnte sie sich zurück und stützte ihre Ellbogen auf dem Tisch ab. Paul setzte sich neben sie und orderte ebenfalls ein Bier. Er griff nach seiner Jacke, welche er achtlos auf der Bank zurückgelassen hatte, und legte sie über die Schultern seiner Mutter.

»Es wird langsam kühl. Nicht, dass du krank wirst.«

Sie lachte. »Du kümmerst dich so gut um mich, Paul. Eigentlich müsste es anders herum sein.«

Er legte den Arm um sie und zog sie näher an sich heran.

»Es ist genau richtig so!«

»Weißt du, ich merke, dass mit meinem Gehirn irgendwas nicht stimmt.«

Paul drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und beobachtete, wie ein hoch aufgeschichteter Holzhaufen in Brand gesetzt wurde. Die Scheite begannen zu brennen und kurz darauf züngelten die Flammen bis hinauf in den nachtschwarz Himmel. Dann hielt der Bürgermeister eine feierliche Rede, welche von den Anwesenden lautstark beklatscht wurde. Seine Mutter jubelte mit, aber für ihn war das nichts. Stattdessen genoss er die Hitze des Feuers und ihre Gesellschaft.

Unvermittelt wurde sie ruhiger und starrte gedankenverloren in das Flammenmeer. Paul erkannte, dass sich in diesem Moment nicht nur ihr Blick verschleierte, sondern auch ihr Geist.

»Du bist groß geworden, Paulchen. Ich bin stolz auf dich!« Sie lächelte und strich ihm über den Kopf. »Bald kommst du in die Schule. Das wird aufregend. Ich versprech's dir.«

Paul nickte und schwieg.

»Weil wir hier gerade so schön sitzen, muss ich dir was verraten!« Sie tat geheimnisvoll und grinste dabei breit. »Diese abenteuerliche Geschichte solltest du kennen, bevor du in die Schulte kommst. Über unseren Fluss und warum er die Welt gerettet hat.«

Verträumt legte sie ihren Kopf in den Nacken und sah in den Himmel hinauf. Paul antwortete nicht.

»Ach, ist der grüne Mond nicht einfach wunderschön?« Sie seufzte sehnsüchtig. »Kennst du eigentlich die Bienenstöcke auf dem Marktplatz?«

»Natürlich.«

»Weißt du, das waren mal Sauerstofftankstellen. Früher war die Luftverschmutzung so groß, dass man kaum atmen konnte, ohne sich die Lunge auszuhusten. Es war furchtbar, sag ich dir.« Mit einer ausladenden Geste winkte sie ab und schnaubte. »Von hier aus, wo wir gerade sitzen, hättest du nicht bis zu den Bergen schauen können.«

Die Kellnerin brachte zwei volle Bierkrüge und seine Mutter nahm einen großen Schluck davon.

»Ah, köstlich! Irgendwann tauchten Wissenschaftler im Dorf auf. Ständig waren sie am Flussufer und entnahmen Proben. Da gibt's wohl besondere Mikroorganismen. Bärtierchen oder so. Dein Vater hat's erklärt, aber ich kann mir den Namen einfach nicht merken.«

»Milnesium tardigradum.«

Sie lächelte ihn an. »Ja, genau. Die Forscher haben die kleinen Kerlchen eingesammelt und mitgenommen. Sie sollten mit ins All fliegen und auf dem Mond ausgesetzt werden. Stell dir das mal vor! Offenbar sind die Bärtierchen ganz schön robust und man wollte wohl rausfinden, wie viel sie tatsächlich aushalten.«

Sie streckte ihre Beine aus und zog die Schuhe von den Füßen. Eine leichte Brise wehte den Rauch des Feuers zu ihnen herüber. Eifrig wedelte sie mit ihrer Hand vor dem Gesicht und spülte den Ruß in ihrer Kehle mit Bier hinunter.

»Da die Kerlchen so winzig waren, konnte man ihnen ja schlecht einen Peilsender auf den Rücken kleben und irgendwann musste man sie ja auch wieder einsammeln vom Mond. Dein Vater hatte einen unglaublich guten Einfall: Er verfütterte den Krabblern einfach Phosphor. Weil sie so eine durchsichtige Haut haben, begannen sie bald darauf grellgrün zu leuchten. Ist das nicht herrlich?« Bei dieser Vorstellung lachte sie herzhaft. »Auf Ideen muss man kommen …«

»Ja, das war sehr schlau«, bestätigte Paul und nahm einen Schluck Bier zu sich, ohne dass sie es bemerkte.

»Dein Vater hat die grün leuchtenden Kerlchen dann tatsächlich dort oben ausgesetzt. Aber während der Mission ging etwas schief, denn ein furchtbarer Sonnensturm fegte über Mond hinweg. Der hat keine Schutzatmosphäre wie die Erde, weißt du?«

Paul nickte erneut und nahm ihre Hand in die seine – vorbereitet auf alles Folgende.

»Dein lieber Vater …«, flüsterte sie und starrte auf ihre nackten Zehen, welche sich ins Gras gruben. »Jedenfalls …«, sie räusperte sich und rang nach Fassung, »erwischte die hohe Strahlung des Sonnensturms die grünen Bärtierchen. Irgendwie überlebten sie das und mutierten. Sie wuchsen auf so enorme Größe an, dass man sie von der Erde aus sehen konnte. Allem voran aber hatten sie Hunger und fraßen sogar die Überreste der Landungskapsel auf, wodurch sie noch riesiger wurden.«

Sie lachte und warf den Kopf in den Nacken. Paul hingegen sah verstohlen zur Feuerstelle hinüber, an welcher das saftige Fleisch von den Rippen des Schweins geschnitten wurde. Eine der Kellnerinnen steuerte mit einem vollbeladenen Tablett auf sie beide zu. Voller Erwartung auf das köstliche Essen rieb er sich die Hände.

»Weißt du, was die findige Menschheit damit angefangen hat?«, fragte seine Mutter und sah ihn neugierig von der Seite an.

»Nein«, sagte Paul, denn er wollte ihr das Vergnügen des Erzählens nicht nehmen.

»Ach, mach dir nichts draus. Du bist ja noch klein und hast viel Zeit, das alles zu lernen. Ich sag dir, was die Leute gemacht haben: Sie schossen ihren ganzen Müll auf den Mond, um die Bärtierchen aus unserem Fluss zu füttern. Bekamen die grünen Kerlchen nicht genug, verfielen sie in Schockstarre, bis eine neue Ladung eintraf. All der Abfall, welcher die Erde verdreckte, wurde dort auf dem Mond entsorgt und nicht mehr hier verbrannt. Zuerst war es wohl etwas teuer mit den ganzen Raketen und so, aber mittlerweile gibt es ja den Lift hinauf. Jetzt ist alles einfacher.«

Die Kellnerin reichte jedem von ihnen einen tiefen Teller mit Fleisch und frischem Brot. Wohlig sog Paul den köstlichen Duft ein. Seine Mutter stellte ihre Schale auf dem Tisch ab und leerte ihren Humpen in einem Zug. Genussvoll begann er zu essen, seufzte und fühlte sich so wohl, wie schon lange nicht mehr. Es war ein herrlicher Abend. Sie bestellte noch ein Bier.

»Es ist ziemlich lustig, dass diese winzigen Mikroorganismen aus dem Fluss uns aus der Patsche geholfen haben. Aus Versehen. Es wäre einfacher gewesen, nicht massenhaft Müll zu produzieren, anstatt alles auf den Mond zu schießen. Die Krabbler bekamen so viel zu fressen, dass sie die mittlerweile die ganze Mondoberfläche besiedeln und grellgrün erstrahlen lassen. Wir hatten Glück im Unglück. Aber jetzt ist unsere Erde wieder in Ordnung. Fast wie neu. Ist das nicht schön?«, fragte sie euphorisch.

»Ja, das ist es.«

»Unser Fluss und dein Vater haben die Welt gerettet und das Mondgrün ist ihr Erbe. Deshalb bin ich nicht so traurig.«

Paul drückte liebevoll die Hand seiner Mutter. Es war unnötig, ihr erneut alles zu offenbaren. Er legte seinen Kopf in den Nacken und sah hinauf zum leuchtendend Mond. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

»Das ist ein wundervoller Gedanke«, gestand er. »Du bist wundervoll!«

Paul drückte ihr einen Kuss auf das silbrige Haar. Insgeheim wünschte er sich, dass diese Erzählung nicht nur ein Konstrukt ihres Geistes war. Sie zog ihn mit in ihre Gedankenwelt und nun enthüllte sich auch ihm das fantastische Mondgrün.


Barred spiral galaxy, outer space stars

Ende

Diese Kurzgeschichte habe ich beim Literaturpreis »Grassauer Deichelbohrer« eingereicht.

Das vorgegebene Thema lautete: »Im Fluss«, das Genre war frei wählbar und die Zeichen auf maximal 9000, inklusive Leerzeichen, beschränkt.

Ausschreibung beendet - keine Platzierung

Quadrant SE-1

circle glow. circle neon. circle shine. circle light glow. circle neon light

Diese Kurzgeschichte habe ich beim Space Net Award eingereicht.

Das vorgegebene Thema lautete: »Stein«, das Genre war frei wählbar und die Zeichen auf maximal 10000, inklusive Leerzeichen, beschränkt.

Noch ist die Ausschreibung nicht beendet und aufgrund der Teilnahmeregelung darf ich diese Geschichte noch nicht veröffentlichen. Das werde ich tun, sobald das Ergebnis feststeht. Ich bin schon sehr gespannt.